Leben im Sterben

„Ich hoffe nur, dass ich einmal einfach einschlafen kann und am Morgen nicht mehr aufwache!“ Das sagte kürzlich meine alte Mutter zu mir, die noch immer alleine in ihrem Haus lebt und eigentlich ganz gut ohne fremde Hilfe über die Runden kommt. Wer würde sich das oder ähnliches beim Nachdenken über das eigene Sterben nicht auch wünschen? Leider sieht die Realität oft anders aus. Die meisten Menschen sterben in Deutschland in Institutionen, wobei das Krankenhaus mit über 50 % den häufigsten Sterbeort darstellt. Nur jeder vierte Sterbefall ereignet sich zu Hause. Im zeitlichen Trend kann eine deutliche Sterbeortverlagerung weg vom häuslichen Umfeld sowie Krankenhaus, hin zu Alten- oder Pflegeheimen, aber auch zu Palliativstationen und Hospizen beobachtet werden. Und meistens geht dem akuten Sterbeprozess eine längere Zeit der Krankheit und auch der Pflegebedürftigkeit voraus. Ja, wie schön wäre es doch, nach einem erfüllten Leben einfach zu Hause ohne großes Leiden sterben zu dürfen.

Warum nur klafft gerade in diesem existenziellen menschlichen Bereich eine derart große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Leben im Sterben, so lautet der Titel der diesjährigen Woche für das Leben, die als ökumenische bundesweite Aktion vom 17. bis 24. April 2021 begangen wird. Mit zahlreichen Aktionen und Gottesdiensten wollen die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam auf die letzte Phase im menschlichen Leben aufmerksam machen. Sie greifen damit einen häufig zitierten Satz von Cicely Saunders, der Begründerin der Hospizbewegung, auf. Auf die Frage nach den Zielen dieser Bewegung antwortete sie: „Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben!“

Nicht erst seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum assistierten Suizid wird die Frage nach einem menschenwürdigen Sterben wieder heftig diskutiert. Danach hat jeder Mensch in Deutschland das Recht, selbst den Zeitpunkt und den Ort des Sterbens zu bestimmen und dafür auch Hilfe von anderen in Anspruch zu nehmen. Die einen feierten dies als Sieg des Selbstbestimmungsrechtes während es andere als Niederlage der Menschlichkeit empfanden. Für mich ist die Gefahr groß, dass Menschen, die fürchten müssen, in ihrer Hilflosigkeit anderen zur Last zu fallen, den „Notausgang Suizid“ wählen, weil sie das Gefühl haben, dies den anderen schuldig zu sein. Ich fürchte, dass wir dadurch als Gesellschaft die Möglichkeit verlieren, füreinander sorgend da zu sein. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“, sagt Jesus im 10. Kapitel des Johannesevangeliums. Einen Vorgeschmack auf diese Fülle sollten wir schon in diesem irdischen Leben haben. Das kann nur dann gelingen, wenn wir füreinander da sind, im Leben und im Sterben. Nicht umsonst verstehen sich die Ehrenamtlichen der verschiedenen Hospizdienste ausdrücklich als Lebensbegleiterinnen und nicht so sehr als Sterbebegleiter.

Meiner Mutter konnte ich nicht versprechen, dass sich ihr Wunsch erfüllen wird. Aber ich konnte ihr versichern, dass sie im Sterben nicht alleine sein wird. Dass sie von lieben Menschen umgeben sein wird, egal wo sich dieses Sterben vollziehen wird. Und dass sie sich damit ruhig Zeit lassen kann, denn noch haben ihre Tage ja viel Leben. Wir dürfen unser Sterben getrost in Gottes Hand legen, denn durch ihn wird nicht nur unser Sterben Leben haben, sondern auch unser Tod. Ein Leben in Fülle. Ich glaube, das hat sie beruhigt.

 

Diakon Rainer Wagner, katholische Gesamtkirchengemeinde Kirchheim unter Teck, Leiter und Koordinator des häuslichen Kinder- und Jugendhospizdienstes